Wenn es um die Systemauswahl und Implementierung eines neuen Treasury Management Systems (TMS) geht, stehen Corporates vor den folgenden Herausforderungen: die zur Verfügung stehenden Ressourcen sind meist knapp bemessen und so gehen diese Vorhaben in der Regel mit (i) Zeitdruck, (ii) einer dünnen Personaldecke und (iii) einem vorgegebenen Budgetrahmen einher.

Entscheidungsträger:Innen und Projektverantwortliche haben daher das sehr plausible Bedürfnis, diese knappen Ressourcen während der Systemauswahlphase nicht zu verschwenden. Es wird daher angestrebt, dass primär auf „das Wesentliche“ geschaut wird und „unwesentliche“ Sachverhalte bewusst de-priorisiert werden. Als projektverantwortliche Person stellt man sich daher gerne mal Fragen wie:

  • habe ich alle gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen vollständig erfasst?
  • wie viele und konkret welche Vendoren soll ich in Betracht ziehen?
  • wie verhindere ich, dass ich mich im Dschungel aus Anforderungen einerseits und angepriesenen Software-Features andererseits nicht verzettele und dadurch wertvolle Ressourcen verschwende?
  • bei welchen Prozessen und Subprozessen kann ich mir eine flüchtigere Analyse leisten (bewusstes De-Priorisieren) und dadurch Ressourcen schonen und wo liegen aber die für mich möglicherweise problematischen Schwächen der konkurrierenden Systeme, wobei eine nur flüchtige Auseinandersetzung während der Systemauswahl langfristige negative Auswirkungen haben kann?

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit diesem Spannungsfeld und zeigt, wie es mit dem richtigen Projektansatz aufgelöst werden kann. Das Ziel ist, dass es gleichermaßen gelingt, einerseits effizient mit den verfügbaren Ressourcen umzugehen und andererseits dennoch effektiv eine hochgradig vertrauenswürdige Software-Evaluation durchzuführen, bei der alle relevanten Aspekte in die Analyse einbezogen werden.

Die Grundidee besteht darin, dass man sich in Auswahlprojekten stärker auf End-to-End Prozesse und kritische Use Cases fokussiert als auf die Analyse von Einzelanforderungen. Dafür ist es essenziell, dass eine vollständige Prozessübersicht vorhanden ist (idealerweise auch mit den zugehörigen Subprozessen). Zudem ist ein graphisches oder deskriptives Zielbild der finalen IT-Infrastruktur unter Berücksichtigung der ans TMS anliegenden Applikationen sehr hilfreich.

Ganz konkret kann diese Prozessübersicht dann zum Beispiel aus den folgenden übergeordneten Hauptprozessen und dazugehörigen Unterprozessen bestehen (folgende Punkte beispielhaft für einen „Mid-Tier“ Corporate mit moderater Komplexität im Finanzwesen):

  • Cash Management
    • Abgleich von Zahlungsströmen
    • Identifikation von aktuellen anstehenden Cash Transaktionen
    • Erstellung des täglichen Cash-Forecasts
    • Disposition
  • Liquiditätsplanung
    • Ausblick zum gruppenweiten Finanzstatus
    • Erstellung eines Liquiditäts-Forecasts
  • Banking und Zahlungsverkehr
    • Verwaltung von Bankkonten und Unterschriftsberechtigungen
    • Betrieb von Cash Pools
    • Prozessierung von Kontoauszügen und Zahlungen
  • Risikomanagement
    • Exposure Ermittlung
    • Entscheidung Hedging und ggf. Durchführung einer risikominimierenden Transaktion am Markt
    • Back Office und Handelskontrolle

Wie eingangs erwähnt spielen Dauer, Personal und der finanzielle Aufwand bei einer Software-Einführung eine große Rolle. Das Potenzial für eine effiziente Systemauswahl besteht darin, dass sich die Projektteams vor allem auf „das Wesentliche“ fokussieren. Die Gretchenfrage lautet also:

  • welche Prozesse, Subprozesse oder in der Software-Entwicklung sogenannte „Use Cases“ werden im Auswahlprojekt genau unter die Lupe genommen und bei welchen ist ein flüchtigerer, Ressourcen-schonender Blick aus guten Gründen legitim?
  • wie lässt sich also die sprichwörtliche Spreu (hier kann mit einem reduzierten Fokus verfahren werden) vom Weizen (hierauf müssen Unternehmen ihr absolutes Augenmerk haben) trennen?

Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir die gängigen Anbieter im Vergleich und vergleichen dazu insbesondere die jeweiligen Entwicklungspfade, die diese in den letzten 15-20 Jahren gegangen hat. Dabei stellt man fest, dass sich die gängigen Anbieter in den Kernfunktionen weitgehend homogen entwickelt haben und jeweils auch gute, repräsentative Referenzkunden zur Befragung nennen können. Durch ihre langjährige Erfahrung und die vonseiten ihrer Stammkunden und ihrer potenziellen Neukunden stetig eingehenden Forderungen nach Bugfixing und Weiterentwicklung können die gängigen TMS-Anbieter sicherstellen, dass die angebotenen Module, Workflows und Reportingmöglichkeiten den klassischen Anforderungen eines Industrieunternehmens gewachsen sind. Diese Voraussetzung (mehrere gängige Systeme, die in den zurückliegenden Jahren allesamt einen robusten Stand erreicht haben) ermöglicht einen Ressourcen-schonenden Auswahlprozess, in dem es sich Projektteams tatsächlich leisten können, vor allem diejenigen Punkte eingehend zu analysieren, bei denen sich die Vendorenlösungen im Hinblick auf die definierten Anforderungen unterscheiden. Und sobald kritische Use Cases in den Bereich fallen, in dem es signifikante Performance-Unterschiede zwischen den betrachteten Vendorenlösungen gibt, ist „das Wesentliche“, auf das es sich im Auswahlprojekt primär zu fokussieren gilt, gefunden.

Im Folgenden sei die Standardabfolge für die Hauptaktivitäten einer Systemauswahl und Evaluierung in 10 aufeinanderfolgenden Schritten genannt, damit wir die Auseinandersetzung mit den oben identifizierten kritischen Use Cases auf dieser Grundlage noch genauer lokalisieren können:

  1. Anforderungsanalyse
  2. Definition des Zielbilds (sowohl fachlich-operativ als auch technologisch)
  3. Erstellung einer Liste mit grundsätzlich geeigneten Vendorenlösungen (Longlist und/oder Shortlist)
  4. Ausschreibung mit „Request for Proposal“ (RFP) und Begleitdokumenten (AGB, NDA, etc.)
  5. Analyse der RFP-Rückläufer
  6. Definition der kritischen Use Cases
  7. Workshops zur Demonstration der Systemfunktionalität für die kritischen Use Cases in Live-Systemen der jeweiligen Vendoren 
  8. Evaluierung der betrachteten Vendorenlösungen (sowohl qualitativ, quantitativ als auch kommerziell)
  9. Vor-Entscheidung und Vertragsverhandlung
  10. finale Entscheidung

Die Identifikation der für die Systemauswahl kritischen Use Cases (hier in Schritt 6) ist also die Kernaufgabe eines Auswahlprojektes. Wenn die vorbereitenden Aktivitäten 1. Anforderungsanalyse und 2. Zielbilddefinition gründlich und wohlüberlegt durchgeführt wurden, so ist dies ein bedeutender Mehrwert für die Identifikation der kritischen Use Cases. Denn dann kann eine fundierte und belastbare qualitative Analyse der Prozesse und Subprozesse, wie seitens durch die Vendoren in den RFP-Rückläufern beschrieben, durchgeführt werden. Die Prozesse und Subprozesse können dann in unterschiedliche Bewertungskategorien für die Performance der jeweiligen Softwarelösung eingeteilt werden, zum Beispiel:

a. Prozess vollständig abbildbar
b. Prozess nur teilweise abbildbar mit Workaround
c. Prozess nur teilweise abbildbar mit Zusatzentwicklung
d. Prozess nicht abbildbar

Dieses Ergebnis wird dann mit der im Auswahlprojekt zugewiesenen Prozess-Priorität verknüpft. Kritische Use Cases sind dementsprechend „must have“, weniger kritische Use Cases werden typischerweise mit geringerer Priorität versehen („should have“, „could have“ oder sogar „not relevant“).

Fazit

Die gängigen Systemlösungen für den Mid Market (kleinere und mittelständische Unternehmen) zeichnen sich dadurch aus, dass die System-Workflows für Treasury-Kernfunktionen effizient und effektiv (vor-) implementiert sind und somit kein grundlegendes Customizing und keine aufwändige Konfiguration im Rahmen der Software-Einführung nötig sind. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich auch Standardsystemlösungen noch individuell konfigurieren. Aus diesen Gründen wird insbesondere im Mid Market oft zu einer solchen Standardsoftware gegriffen, denn sie bringt alle klassischen Funktionalitäten für die Verwaltung und Bearbeitung der klassischen Treasury-Geschäftsvorfälle mit.

Mit der Fokussierung auf End-to-End Prozesse und kritische Use Cases gelingt es in einem TMS-Auswahlprojekt also, gleichzeitig wertvolle Ressourcen zu schonen und eine fundierte, und nachvollziehbare Systementscheidung zu treffen.

Quelle: KPMG Corporate Treasury News, Ausgabe 125, September 2022
Autoren:
Michael Gerhards, Partner, Finance and Treasury Management, Corporate Treasury Advisory, KPMG AG
Cornelius Bonz, Manager, Finance and Treasury Management, Corporate Treasury Advisory, KPMG AG