Von der Vision einer digitalen Schweiz bis hin zu den konkreten Herausforderungen im Gesundheitssektor – in einem exklusiven Interview mit Philomena Colatrella, CEO der CSS, diskutieren wir über die zentralen Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung im Gesundheitswesen und über die Rolle der CSS als Innovationsmotor.

Als führende Persönlichkeit im Gesundheitssektor und Mitglied des Steering Committee von digitalswitzerland teilt Frau Colatrella ihre Ansichten zu den drängenden Themen der Branche. Sie beleuchtet die Potenziale von Partnerschaften mit Bildungs- und Forschungsinstituten und erläutert die Strategie der CSS bei der Nutzung digitaler Technologien zur Verbesserung der Kundenerfahrung, Förderung von Innovationen und Senkung der Kosten.


Prof. Dr. Reto Eberle: digitalswitzerland, dessen Executive-Steering-Committee Sie angehören, setzt sich dafür ein, die Schweiz zu einem führenden digitalen Innovationsstandort zu entwickeln.

Wie gut ist die Schweiz im internationalen Vergleich positioniert? Wo ist die Schweiz führend aufgestellt und woran fehlt es noch?

Philomena Colatrella: Die Schweiz gehört zu den innovativsten Ländern der Welt. Innovationen finden allerdings oft in traditionellen – sprich: analogen – Bereichen statt. So sind unsere chemischen und pharmazeutischen Industrien weltweit führend. Der Anteil an Patenten mit einer digitalen Komponente fällt hingegen tief aus, wie das «Center for International Economics and Business» der Universität Basel ermittelt hat.

Um der digitalen Innovation auf die Sprünge zu helfen, könnte ein möglicher Ansatz darin bestehen, dass Bildungs- und Forschungsinstitute vermehrt mit der Privatwirtschaft kollaborieren. Solche Partnerschaften können einen wichtigen Beitrag leisten, um den Standort Schweiz zu stärken und auf die Zukunft auszurichten. Auch verfügen wir hierzulande über eine lebendige Start-up-Szene. Unternehmen mit innovativen digitalen Ideen müssen vermehrt gefördert werden.

Innovation bedeutet für mich, Fähigkeiten innerhalb des Unternehmens aufzubauen, um zukunftsfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Die Digitalisierung betrifft fast alle Bereiche des Privat- und Berufslebens. digitalswitzerland thematisiert eine breite Palette von Themen wie eSustainability, Distributed-Ledger-Technologie, Bildung und Fachkräfte, Menschen und Kultur, Infrastruktur und Cybersicherheit sowie digitale Gesundheit.

Wo ist der Handlungsbedarf aus Ihrer Sicht am grössten?

Der Handlungsbedarf ist in allen erwähnten Bereichen gross – die Bereiche sind zudem miteinander verknüpft. Als CEO eines Krankenversicherers möchte ich die Bereiche «digitale Gesundheit» sowie «Menschen und Kultur» speziell betonen.

Die Schweiz besitzt gute Voraussetzungen, um im Gesundheitswesen als digitaler Innovationstreiber in der vordersten Liga mitzuspielen. Sie verfügt über ein dynamisches Forschungs- und Bildungssystem und über die nötige technische Infrastruktur. Allerdings müssen unter anderem die Schnittstellen zwischen den verschiedenen involvierten Bereichen verbessert werden. Hier liegt noch viel Potenzial brach.

Eine weitere Herausforderung sind die digitalen Kompetenzen der Fachkräfte. Dies umfasst nicht nur IT-spezifische Fähigkeiten im Umgang mit disruptiven Technologien, sondern auch Kompetenzen in den Bereichen digitale Ethik, Datenschutz und Cybersicherheit. Lebenslanges Lernen ist keine leere Worthülse, sondern einfach unabdingbar in einer sich immer schneller verändernden Welt.

Kontinuierliche Weiterbildung liegt nicht nur in der Verantwortung jedes Einzelnen – auch die Unternehmen sollten ihren Teil dazu beitragen, indem sie gute Rahmenbedingungen schaffen und Angebote bereitstellen. 

Darauf legen wir auch bei der CSS grossen Wert.

Sie gelten als sehr innovative Führungspersönlichkeit. Wie lassen Sie sich inspirieren? Woher nehmen Sie die Ideen dazu?

Führung ist das Ergebnis eines Reifeprozesses, der mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit einhergeht. Damit verbunden ist das kritische Hinterfragen der eigenen Werte und des eigenen Handelns, aber auch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Veränderungen. 

Aus dieser Haltung schöpfe ich Ideen, die über die Aspekte «Neuigkeit» und «Mehrwert» hinausgehen. Innovation bedeutet für mich, Fähigkeiten innerhalb des Unternehmens aufzubauen, um zukunftsfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln. Nur so können wir das volle Potenzial der Mitarbeitenden nutzen. Persönlich interessieren mich Innovationen und Geschäftsmodelle rund um die Themen Healthy Longevity und Prävention.

Interview mit Philomena Colatrella, CEO, CSS

Es bewegt sich viel im Gesundheitssystem. Auf der Homepage von digitalswitzerland findet sich eine Übersicht zum Ökosystem mit seinen zahlreichen digitalen Lösungen und Initiativen.

Wie steht es denn um die digitale Gesundheitsversorgung in der Schweiz?

Sie steckt noch in den Kinderschuhen. Die Schweiz hinkt im internationalen Vergleich hinterher und rangiert in verschiedenen Studien nur im hinteren Drittel der unter suchten Länder. Föderalistische Einzellösungen, mangelnde Vernetzung, technologische Herausforderungen und fehlende Governance im Umgang mit Gesundheitsdaten sind die Gründe. Ein funktionierendes elektronisches Patientendossier würde der Digitalisierung viel Schub verliehen. 

Meines Erachtens braucht es hier Kurskorrekturen, sonst stossen Projekte bei wichtigen Stakeholdern auf Widerstand. Allerdings machen es sich die Akteure des Gesundheitswesens zu einfach, wenn sie mit dem Finger auf die Politik zeigen.

Digitale Innovation muss zu grossen Teilen aus dem System heraus erfolgen. Der Bund seinerseits sollte zügig die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, um das Potenzial der Digitalisierung besser zu nutzen. Hinzu kommt: Die Player im Gesundheitswesen sind derzeit mit sehr unterschiedlicher Maturität in Sachen Digitalisierung unterwegs.

Diese Ungleichheit erschwert es, in übergeordneten Netzwerken zu denken, die auf einer gemeinsamen digitalen Basis stehen. Dennoch entstehen immer wieder spannende Projekte, wie die CSS mit der Lancierung der Gesundheitsplattform «Well» bewiesen hat.

Was sind die für Sie wichtigsten Entwicklungen, die das Gesundheitswesen mittelfristig massgeblich prägen werden?

Dazu zählen künstliche Intelligenz, Big Data und Datenanalyse, Robotik und Automatisierung sowie zertifizierte Gesundheitsapps, welche die Patientinnen und Patienten bei der Prävention und zwischen zwei Arztterminen im Umgang mit einer Krankheit unterstützen. Diese Entwicklungen verbessern den Zugang zur Versorgung, ermöglichen personalisierte Behandlungen und steigern die Effektivität des Gesundheitssystems.

Und welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der Bekämpfungv der stetig steigenden Kosten im Gesundheitswesen?

Eine sehr grosse. Ich gehe davon aus, dass wir im letzten Jahr die 90-Milliarden-Grenze für Gesundheitsausgaben überschritten haben. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH prognostiziert gar einen Anstieg auf 100 Milliarden im Jahr 2026. Es besteht grosser Handlungsbedarf.

Die Digitalisierung kann sich positiv auf verschiedenen Ebenen auswirken: Sie optimiert Prozesse und fördert präzisere Diagnosen, was unnötige Behandlungen und Doppelspurigkeiten verhindert und somit Kosten spart. Eine Studie von McKinsey beziffert das Einsparpotenzial auf rund 8 Milliarden pro Jahr, was ca. einem Prozent des Schweizer Bruttoinlandprodukts entspricht. Ich teile diese Einschätzung. So könnten beispielsweise mit elektronischen Patientenakten, einer gesteigerten Automatisierung in den Spitälern und Techniken zur Selbstüberwachung der Patientinnen und Patienten Kosten eingespart werden.

Sie haben als CEO die CSS in den letzten Jahren neu ausgerichtet und als wichtigen Player im Gesundheitsmarkt positioniert. Sie werden mit der Aussage zitiert, dass die CSS mehr kann als ein reiner Krankenversicherer zu sein.

Welche Rolle spielt(e) die Digitalisierung bei der Transformation des Geschäftsmodells der CSS? 

Wir betreiben ein Massengeschäft, das ohne Digitalisierung gar nicht zu bewältigen wäre. Im letzten Jahr erreichten uns 23 Millionen Rechnungen, die wir zum überwiegenden Teil mit Machine Learning überprüft haben. Die Möglichkeiten der Digitalisierung gehen selbstverständlich weit darüber hinaus.

Die CSS hat sich vor ein paar Jahren zum Ziel gesetzt, ihre Datenkompetenz sukzessive zu steigern. Wir möchten die Potenziale entlang der gesamten Wertschöpfungskette noch besser nutzen. Damit wollen wir Mehrwerte für unsere Versicherten generieren. Zu diesem Zweck bauen wir eine Datenplattform auf und investieren in die digitalen Kompetenzen der Mitarbeitenden. Die Auswirkungen dieser Strategie erstrecken sich über alle Bereiche der CSS: von der Produktentwicklung über den Kundenservice bis hin zu Marketing, Sales & Distribution.

Ergänzend dazu investieren wir einen Teil unserer Gewinne aus dem Zusatzversicherungsgeschäft in die Erforschung innovativer Therapien und in Start-ups. Daraus sollen mittelfristig neue Produkte und Gesundheitsdienstleistungen resultieren, die wir unseren zusatzversicherten Kundinnen und Kunden anbieten können. Damit arrondieren wir unser Portfolio und stärken unsere Positionierung als Gesundheitspartnerin.

Interview mit Philomena Colatrella, CEO, CSS

Die CSS will ihre Kundinnen und Kunden als Gesundheitspartnerin begleiten und sich für das Gesundheitssystem engagieren, indem sie Verantwortung übernimmt und Innovationen vorantreibt. Dazu arbeitet die CSS mit verschiedenen Universitäten zusammen: zum einen mit der ETH Zürich und der Universität St. Gallen, zum anderen mit der EPFL in Lausanne.

Was versprechen Sie sich von diesen Partnerschaften?

2015 hat die CSS als erster Krankenversicherer diesen Weg beschritten und wir verfolgen ihn seither konsequent weiter. Die Ziele der beiden Kooperationen sind unterschiedlich. Das CSS Health Lab haben wir mit der ETH Zürich und der Universität St. Gallen gegründet. Es soll sich zum führenden Forschungszentrum für digitale Therapien entwickeln und beschäftigt Doktorierende aus den Bereichen Psychologie und Informatik. Die Forschungsergebnisse sollen wo immer möglich in Produkte und Anwendungen überführt werden.

Das Programm mit der EPFL hingegen fördert Start-ups, die sich zwischen der Gründungsphase und der ersten Finanzierungsrunde befinden. Jedes Jahr sind wir in Kontakt mit mehr als 250 Bewerbern. Das erlaubt uns, Trends sehr früh zu erkennen und vielversprechenden Ideen mit finanziellen Mitteln und unserer Expertise zum Durchbruch zu verhelfen.

Mit KI verhinderten wir 2023 ungerechtfertigte Kosten in Höhe von 797 Millionen Franken.

Welcher Nutzen erwächst den Kundinnen und Kunden beziehungsweise der CSS als Gesundheitspartnerin und Versicherer aus diesen Anwendungen?

Aus dem CSS Health Lab ist beispielsweise das Spin-off «Resmonics» hervorgegangen. Die entwickelte Technologie verwandelt handelsübliche Smartphones in einen medizinischen Sensor. Patientinnen und Patienten mit Atemwegserkrankungen können damit den Verlauf einfacher überwachen und Verschlechterungen frühzeitig erkennen.

Dank der Kollaboration mit der EPFL haben die ausgewählten Start-ups bemerkenswerte Fortschritte erzielt. Dazu zählt unter anderem «Biped». Das Unternehmen vermarktet einen Hindernisdetektor, der die Unabhängigkeit von Sehbehinderten erhöht. Oder das Start-up «Ocumeda», dessen Anwendung das Augenscreening durch die Telemedizin erleichtert und bereits von mehr als 100 Optikerinnen und Optikern in der Schweiz und in Deutschland genutzt wird.

Ausgelöst durch ChatGPT ist das Thema künstliche Intelligenz in aller Munde. Dabei ist generative KI, zu der auch ChatGPT zählt, ja nur eine «Spielart» von künstlicher Intelligenz.

Wo sehen Sie die wichtigsten KI-Anwendungsbereiche in Ihrem Unternehmen?

Das Potenzial von künstlicher Intelligenz fasziniert mich und ist noch lange nicht ausgeschöpft. Die Anwendungsbereiche sind unglaublich vielfältig – auch bei der CSS. Den Einsatz von Machine Learning bei der Überprüfung von Rechnungen habe ich bereits erwähnt. 2023 verhinderten wir damit ungerechtfertigte Kosten in Höhe von 797 Millionen Franken.

KI-Algorithmen helfen auch bei der Identifizierung von Versicherungsbetrug, indem sie auffällige Muster in den Daten erkennen. Auch wenden wir Advanced Analytics wie Chatbots im Kundenservice an. Aktuell pilotiert die CSS den Einsatz von KI-Modellen zur effizienteren und besseren Beantwortung von Kundenanliegen. 

Viele Aufgaben im administrativen Bereich lassen sich dadurch vereinfachen und beschleunigen. Ein anderes Beispiel sind Gesundheitsprogramme im Bereich der Prävention. Mithilfe einer KI-gestützten Datenanalyse können wir Angebote entwickeln, die auf die individuellen Bedürfnisse der Versicherten zugeschnitten sind.

Der Einsatz von neuen digitalen Technologien und die Bearbeitung von Daten bergen neben dem erwähnten Nutzen auch Risiken. Wie stellt die CSS sicher, dass die von ihr eingesetzten digitalen Technologien und Dienste vertrauenswürdig und sicher sind?

Die Schweiz verfügt über strenge Datenschutzgesetze. Selbstverständlich hält die CSS sämtliche gesetzlichen Vorschriften ein. Auch unterstehen wir der Aufsicht von Bundesbehörden, und diese kontrollieren auch unseren Umgang mit Kundendaten. Zudem verfügt die CSS in verschiedenen Bereichen über Datenschutz-Gütesiegel, im Rahmen derer sie mindestens einmal jährlich auch im Umgang migt Daten überprüft wird.

Das Vertrauen der Bevölkerung in den sicheren Umgang mit Daten ist entscheidend, wenn wir substanzielle Fortschritte in der digitalen Gesundheitsversorgung erzielen wollen. Das setzt voraus, dass wir aufzeigen können, was mit den Daten geschieht und welche Vorteile dadurch entstehen. Nur dann sind die Menschen bereit, sich darauf einzulassen.