VfGH zum Recht auf Akteneinsicht: geheime Beweismittel ausnahmsweise zulässig, aber zwingende gerichtliche Kontrolle

VfGH zum Recht auf Akteneinsicht

Die Kommunikationsbehörde Austria ist in ihrem im Ausgangsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) angefochtenen Bescheid davon ausgegangen, dass wesentliche Beweismittel sämtlichen Parteien zugänglich gemacht werden dürfen. Damit stellte sie das Recht auf Parteiengehör über die Geheimhaltungspflicht. Im Gegensatz dazu lässt es der VfGH unter bestimmten Umständen zu, dass „geheime Beweismittel“ zur Entscheidungsfindung seitens der Behörde herangezogen werden dürfen, ohne dass alle Parteien Zugang dazu haben. Allerdings müssen sämtliche Beweismittel bei einer späteren gerichtlichen Kontrolle der verwaltungsbehördlichen Entscheidung dem Gericht zugänglich sein.

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Fritz Fraberger

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1. Anlassverfahren

Ein privater Rundfunkveranstalter erhob Beschwerde bei der Kommunikationsbehörde Austria („KommAustria“) dahingehend, dass der ORF Übertragungsrechte für UEFA Champions League Spiele zu überhöhten – und folglich dem öffentlich-rechtlichen Sendeauftrag zuwiderlaufend – Preisen erworben hätte.

Der ORF legte im Verfahren der KommAustria Unterlagen vor. Allerdings wurde beantragt, gewisse Aktenteile „nur durch die Behörde sichten zu lassen“ und aus der Akteneinsicht der gegnerischen Partei auszunehmen. Der Antrag richtete sich auf jene vorgelegten Aktenteile, die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des ORF zum Inhalt hatten.

Die KommAustria wies den Antrag des ORF auf die Ausnahme bestimmter Aktenteile bei der Akteneinsicht mit der Begründung ab, dass es sich bei den vom ORF vorgelegten Unterlagen um zentrale Beweismittel handle und gewährte die vollständige Akteneinsicht für beide Parteien um das Parteiengehör zu wahren.

Mit Erkenntnis vom 23.01.2018 wies das Bundesverwaltungsgericht („BVwG“) die Beschwerde des ORF als unzulässig zurück, da der ORF nicht konkret behauptete, in seinen subjektiven Rechten verletzt worden zu sein. Als Folge dieser Entscheidung resultierte eine ua auf das Recht auf Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (Art 8 EMRK) gestützte Beschwerde beim VfGH.

2. VfGH 10.10.2019, E 1025/2018-21

Der VfGH hat eine Rechtsverletzung des Bundesverwaltungsgerichtes dahingehend erkannt, dass der ORF ein Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter hat (Art 83 Abs 2 B-VG) und das Erkenntnis des BVwG in diesem Umfang aufgehoben. Der VfGH erörterte seine Entscheidung wie folgt:

  • Die KommAustria hat das Spannungsfeld zwischen der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und der Wahrung des Rechts auf Parteiengehör bei der Akteneinsicht erkannt und entschieden, dass unter Vermeidung „geheimer Beweismittel" der Verfahrenstransparenz zur Wahrung der Rechte gegenbeteiligter Verfahrensparteien der Vorzug gegenüber Geheimhaltungsinteressen zu geben sei (Rz 46).
  • Allerdings vermögen weder das grundrechtlich gewährleistete Recht auf Zugang zu Verfahrensakten (Prinzip der Waffengleichheit, Art 6 EMRK) noch das grundrechtlich geschützte Recht auf Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (Art 8 EMRK) eine absolut geschützte Rechtsposition zu begründen. Vielmehr ist im Verwaltungsverfahren bzw im verwaltungsgerichtlichen Verfahren das Zugangsrecht zu entscheidungsrelevanten Informationen gegen das Recht anderer Verfahrensparteien auf Schutz ihrer vertraulichen Angaben und ihrer Geschäftsgeheimnisse abzuwägen (Rz 52).
  • Die Ausnahme einzelner Aktenbestandteile von der Akteneinsicht führt daher nicht zwingend zu einer Verletzung des Rechts auf Parteiengehör, wenn die Behörde die entsprechenden Aktenbestandteile dennoch heranzieht (Rz 54).
  • Zwar gilt als Grundsatz jedes Verfahrens, dass es keine geheimen Beweismittel geben darf. Allerdings kann es in außergewöhnlichen Fällen zur Wahrung der Grundrechte eines Dritten bzw anderer Verfahrensbeteiligter oder zum Schutz wichtiger Interessen der Allgemeinheit erforderlich sein, den Parteien bestimmte Informationen vorzuenthalten, solange sichergestellt ist, dass sowohl die Behörde als auch das im Rechtsmittelweg angerufene Verwaltungsgericht über alle entscheidungserheblichen Unterlagen vollumfänglich verfügen.
  • Die den Verfahrensparteien vorenthaltenen Informationen sind auf das unbedingt notwendige Ausmaß zu beschränken und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Entscheidungsgrundlagen so zu begrenzen, dass vorzuenthaltende Informationen zur Entscheidungsfindung nicht herangezogen werden müssen (Rz 54, 55).
  • Es besteht weder ein absoluter Vorrang von Geheimhaltungsinteressen gegenüber verfahrensrechtlichen Gewährleistungen noch umgekehrt ein absoluter Vorrang verfahrensrechtlicher Gewährleistungen gegenüber Geheimhaltungsinteressen (Rz 56).
  • Die im vorliegenden Fall bereits erfolgte Offenlegung der Informationen kann durch eine den angefochtenen Bescheid aufhebende oder abändernde Entscheidung des BVwG in der Sache nicht (mehr) beseitigt werden. Das BVwG hat sich daher im fortgesetzten Verfahren auf den Ausspruch zu beschränken, dass eine Verletzung der beschwerdeführenden Partei in ihrem Recht auf Geheimhaltung bestimmter Aktenbestandteile stattgefunden hat (Rz 57).

3. Conclusio

Auf Basis dieses VfGH-Erkenntnisses ist das Recht auf Parteiengehör nicht höherwertig als das Recht auf Geheimhaltung. Vielmehr kann die Behörde unter „besonderen Voraussetzungen“ basierend auf sogenannten „geheimen Beweismitteln“ rechtmäßige Entscheidungen treffen. Dies ist dann der Fall, wenn die Ausnahme der Unterlagen von der Akteneinsicht die Wahrung der Grundrechte eines Dritten bzw anderer Verfahrensbeteiligter schädigen würde. Allerdings unterliegen sämtliche und damit auch die geheimen Beweise zwingend einer gerichtlichen Kontrolle. In einem solchen Fall wird das Recht auf Parteiengehör nicht verletzt.

Als weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise nennt der VfGH, dass die Behörden alle Ermittlungsmöglichkeiten ausschöpfen müssen um diese „geheimen Beweismittel“ für ihre Entscheidungsfindung nicht heranziehen zu müssen.

Schlussendlich spielt der VfGH den Ball wieder zurück an den BVwG und legt ihn sinnbildlich für den ORF auf den Elfmeterpunkt, indem er eine Verletzung der Geheimhaltungsverpflichtung durch die Behörde erster Instanz aufgrund der bereits vollumfänglich gewährten Akteneinsicht sieht.

4. Praxisrelevanz im Abgaben- und Finanzstrafverfahren

§ 90 BAO zur Akteneinsicht im Abgabenverfahren und § 79 FinStrG zur Akteneinsicht im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren entsprechen in folgendem Punkt vollinhaltlich § 17 Abs 3 AVG: Beweismittel sind von der Akteneinsicht auszunehmen, wenn „deren Einsichtnahme eine Schädigung berechtigter Interessen dritter Personen herbeiführen würde.“ Das kann in der Praxis dazu führen, dass die Abgabenbehörde bei der Akteneinsicht beispielsweise im Rahmen einer Außenprüfung Beweise unter besonderen Umständen nicht vorlegen muss, jedoch später zur Bescheidbegründung heranziehen darf, ohne dass eine Verletzung des Parteiengehörs vorliegt. Allerdings muss die Behörde alle anderen möglichen Ermittlungsmaßnahmen erfolglos versucht haben und die Beweise müssen in einem Beschwerdeverfahren dem BFG zugänglich gemacht werden. 

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